Erlebte und erzählte Lebensgeschichte - Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen

Erlebte und erzählte Lebensgeschichte - Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen

von: Gabriele Rosenthal

Campus Verlag, 2024

ISBN: 9783593456898

Sprache: Deutsch

278 Seiten, Download: 4065 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Erlebte und erzählte Lebensgeschichte - Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen



Vorwort zur Neuausgabe


Der vorliegende Band ist eine erweiterte Neuauflage meiner 1995 im Campus Verlag veröffentlichten Habilitationsschrift aus dem Jahre 1993. Diese Schrift und meine darauf beruhenden biographietheoretischen Aufsätze, die zum Teil in mehreren Sprachen veröffentlicht wurden, zählen mittlerweile zu wichtigen Beiträgen für die soziologische Biographieforschung sowohl im deutschsprachigen als auch im internationalen Raum. Eine deutsche Neuauflage und ebenso eine englische Ausgabe dieser Schrift1 waren mir deshalb seit längerem ein Anliegen. Dieses Anliegen ist begründet durch die bis heute dauernde Bedeutung dieser Arbeit sowohl für meine eigenen Arbeiten – durchgehend gemeinsam mit Kolleg*innen durchgeführte empirische Forschungsprojekte – als auch für viele der von mir meist im Rahmen von Dissertationen und anderen Qualifikationsarbeiten betreuten Forschungsarbeiten.

Diese Forschungen beruhen weiterhin auf der damals vorgelegten Konzeption eines dialektischen Verhältnisses von Erleben, Erinnern und Erzählen bzw. generell dem Sprechen über die erlebte und tradierte Vergangenheit. Die Frage nach diesem Verhältnis, verbunden mit einer verstärkten Erforschung der Wechselwirkungen mit den familialen und allgemeiner gesellschaftlichen oder kollektiven Diskursen sowie den kollektiven Gedächtnissen unterschiedlicher Gruppierungen von Menschen, zieht sich wie ein roter Faden durch meine späteren Arbeiten (Rosenthal 2010). Als Soziologin interessieren mich dabei besonders die Auswirkungen von kollektiv belastenden Vergangenheiten auf die individuelle und gesellschaftliche Gegenwart. Zum Beispiel leite ich gegenwärtig gemeinsam mit Maria Pohn-Lauggas ein Forschungsprojekt zu Sklaverei und Sklavenhandel im individuellen und kollektiven Gedächtnis in Brasilien und Ghana2. Wesentliches Anliegen bei diesen Forschungen ist, nicht nur die gegenwärtigen Handlungs- und Deutungsmuster bzw. Diskurse zu rekonstruieren, sondern auch und vor allem deren Genese zu erforschen. Dies bedeutet also immer wieder, der Frage nachzugehen, inwiefern das Sprechen über die Vergangenheit auf Erinnerungen des Erlebten (zu dem auch das Erleben von Tradierungen über die Vergangenheit gehört) beruht und inwiefern wir damit Hinweise auf das damals Erlebte erhalten.

Während diese Frage im Vordergrund dieses Buches stand, sind die späteren methodischen Modifikationen – d.h. der stärkere Einbezug anderer Erhebungsmethoden – dem Bemühen geschuldet, stärker als früher die zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschenden Diskurse und die Verhaltensmuster im gegenwärtigen Leben zu rekonstruieren. Darauf werde ich im Folgenden noch etwas eingehen. Meine empirisch-theoretischen Forschungsarbeiten konzentrierten sich bis 1995 auf die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Folgen der kollektiven Verbrechen während des Nationalsozialismus. Sie waren auch danach großenteils auf das Themenfeld der kollektiven Gewalt und ihrer Folgen fokussiert (vgl. Bogner 2021). Mit Artur Bogner forschte ich u.a. zu extremtraumatisierten, ins zivile Leben zurückgekehrten Kindersoldat*innen der sogenannten Lords Resistance Army (LRA) in Norduganda (Bogner/Rosenthal 2018)3. Damit war mir auch weiterhin die Frage auferlegt, inwiefern erzählte Lebensgeschichten durch die Komponenten eines durch Traumatisierung beschädigten Gedächtnisses (siehe Kapitel 4.1.4), durch die zu unterschiedlichen Zeiten herrschenden, häufig die Gewalt verleugnenden Diskurse und durch die häufige Außenseiterposition von Opfern kollektiver Gewalt bestimmt sind. Bei Interviews mit Opfern kollektiver Gewalt sind wir Sozialwissenschaftler*innen nicht nur bei der Gesprächsführung besonders gefordert, um die Befragten im Erinnerungs- und Erzählprozess zu unterstützen. Zudem ist es notwendig, bei der Analyse bzw. der Auswertung der Interviews die Differenzen zwischen der Gegenwartsperspektive und den Perspektiven der Befragten zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vergangenheit zu entschlüsseln. Das ist eine Herausforderung, die sich umso mehr bei Interviews mit (ehemals) an Gewaltverbrechen aktiv Beteiligten stellt, die oft sehr bemüht sind, diese Beteiligung zu leugnen oder aus ihren Lebenserzählungen diese Thematik und die entsprechenden Lebensphasen soweit als möglich auszusparen oder sogar eine andere Biographie zu erfinden (vgl. Rosenthal 2001; 2002b). Doch ganz unabhängig davon, mit Angehörigen von welchen Gruppierungen wir Interviews führen oder deren schriftliche biographische Selbstzeugnisse benutzen, sind wir immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass wir nicht direkt von Texten auf die Verhaltens- und Handlungsmuster der Sprecher*innen oder Schreiber*innen und erst recht nicht auf das in der Vergangenheit Erlebte schließen können.

Die methodologischen und methodischen Implikationen der in diesem Band vorgestellten grundlagentheoretischen Konzeption zu den gegenseitigen Wechselwirkungen von Erinnern, Erleben und der Präsentation des Erlebens sowie die von mir vorgeschlagene Methode biographischer Fallrekonstruktionen (siehe Kapitel 6.2) sind weiterhin in den methodischen Designs meiner Forschungsarbeiten bestimmend. Dies ist vor allem dem Anliegen einer historisch fundierten Sozialforschung geschuldet, die soziale Phänomene in ihren Prozessen der Entstehung, Reproduktion und Veränderung zu verstehen und zu erklären versucht. Dabei werden sowohl die kollektiv- als auch die lebensgeschichtlichen Verläufe rekonstruiert, die zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln, zu bestimmten Weisen des Erinnerns und zur Etablierung von bestimmten Diskursen führten. Seit ungefähr 20 Jahren erfolgte – insbesondere aufgrund meiner Zusammenarbeit mit Artur Bogner – theoretisch und methodisch eine Integration mit der Figurationssoziologie nicht nur aufgrund der zunehmend bewusster verfolgten Methodik einer historischen Soziologie, sondern vor allem mit einer deutlichen Berücksichtigung der in allen menschlichen Beziehungen stets wirksamen, sich stetig verändernden Machtbalancen und Machtungleichheiten. Die Annahme der ständigen Gegenwart von Machtbalancen und Machtungleichheiten setzt einen zumindest teilweise »strukturellen« Machtbegriff voraus, wie man ihn bei Norbert Elias, aber durchaus auch z.B. bei Max Weber oder Richard M. Emerson findet (vgl. Bogner 1989: 36–41; 1991). Bei Weber bezeichnet Macht eine »Chance« zu einer bestimmten Form von Handlung, impliziert also nicht per se die entsprechende Form der Intention oder deren aktive Realisierung oder passive Wahrnehmung.

Mit einer verstärkten figurationssoziologischen Perspektive verschob sich die auf den einzelnen Interviewten fokussierte Sicht, wie der vorliegende Band – obwohl damals keineswegs so intendiert – nahelegen könnte, zu einer bereits im Forschungsdesign stärker angelegten Fokussierung auf Wir-Gruppen und andere, weniger deutlich vernetzte oder integrierte Gruppierungen von Menschen. Im Vordergrund stand nun zunehmend die Rekonstruktion der Verflechtungszusammenhänge von einzelnen Fällen, der Figurationen zwischen verschiedenen Gruppierungen, Wir-Gruppen und Organisationen und damit einhergehend der sich im historischen Verlauf wandelnden Machtbalancen und Machtungleichheiten zwischen den verschiedenen Gruppierungen4. Diese Erweiterung um eine figurationssoziologische Perspektive bestimmt auch viele der von mir betreuten Forschungsarbeiten. Um diese Weiterentwicklung zu einer sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologischen Biographieforschung zu verdeutlichen, enthält diese Ausgabe abschließend ein gemeinsam mit Artur Bogner verfasstes Kapitel (siehe auch Bogner/Rosenthal 2017a; 2017b).

Parallel zu einer stärker figurationssoziologischen Perspektive veränderte sich mein methodisches Vorgehen maßgeblich durch meine Felderfahrungen im »Globalen Süden«. Diese lehrten mich, biographische Fallrekonstruktionen – die stets im Zentrum meiner Arbeiten blieben – noch stärker mit anderen interpretativen oder rekonstruktiven Methoden zu kombinieren. Zunehmend konsequenter orientierte ich mich am Prinzip der Offenheit (vgl. Rosenthal 2015a: Kapitel 2) nicht nur hinsichtlich der Modifikation der ursprünglichen Forschungsfrage oder des geplanten Samples, sondern vor allem auch hinsichtlich einer verstärkten Flexibilität im geplanten Einsatz und in der Kombination der Erhebungsinstrumente. Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass meine eigene Forschungsplanung, der Einsatz von bestimmten Methoden und die daraus resultierenden...

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