Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück

Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück

von: Zoran Drvenkar

Carl Hanser Verlag München, 2023

ISBN: 9783446277045

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 4046 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück



1.


Die ersten Sonnenstrahlen kriechen über das Fensterbrett, schlängeln sich am Vorhang vorbei und lassen sich in das Wohnzimmer fallen. Sie schauen sich um und entdecken einen Sessel, eine Leselampe und zwei Koffer, die neben der Haustür stehen. Die Sonnenstrahlen wandern den Sessel hoch, und erst als sie sich auf der Kopflehne niedergelassen haben, bemerken sie den Jungen auf dem Boden. Es sieht aus, als würde er im Sitzen schlafen. Doch als die Sonnenstrahlen näher herangehen, fällt ihnen auf, dass seine Augen offen sind und er geblendet in das Morgenlicht blinzelt.

Der Junge hätte sie bestimmt mit einem Hallo begrüßt, da aber ein Klebeband über seinem Mund liegt, muss er vorerst die Klappe halten. Er ist elf Jahre alt und ihm sind die Hände auf dem Schoß gefesselt. Sein Hintern schmerzt von dem Schneidersitz und die Arme fühlen sich an, als wären sie aus Holz geschnitzt.

Die Sonnenstrahlen wandern den Rücken des Jungen hoch und vollführen einen kleinen Stepptanz auf seinen Schultern, ehe sie mitten in der Bewegung erstarren, als Schritte aus dem oberen Stockwerk zu hören sind.

Der Junge schaut hoch.

Das Geräusch der Schritte verstummt.

Eine Spülung rauscht.

Der Junge kratzt sich mit den gefesselten Händen an der Nase.

Die Schritte kommen die Treppe herunter.

*

Der Mann ist alt, richtig alt. Er ist so alt, dass sein Schatten ungeduldig von hinten schiebt, weil ihm der alte Mann zu langsam geht. Er trägt einen karierten Schlafanzug und Hausschuhe, die bei jedem Schritt über die Stufen schleifen, da er die Füße nicht richtig hebt. Seine Haare stehen auf der einen Seite ab und über seinem linken Auge liegt eine schwarze Augenklappe.

Nachdem der alte Mann den untersten Treppenabsatz erreicht hat, geht er an dem Jungen vorbei, als wäre dieser nicht wirklich anwesend.

An der Haustür zögert der alte Mann kurz und betrachtet die zwei Koffer. Der Junge folgt jeder seiner Bewegungen mit den Augen, bis der alte Mann in der Küche verschwindet, wo er sich Kaffee aus einer Thermoskanne eingießt.

Der Junge seufzt.

Während der alte Mann den ersten Schluck Kaffee trinkt, kratzt er sich nachdenklich am Hintern und wundert sich, wie lange er wohl geschlafen hat. Dabei kommt ihm ein Gedanke. Seine Stirn runzelt sich wie eine Ziehharmonika, die lange in einer verstaubten Ecke gestanden hat und froh ist, wieder hervorgeholt zu werden.

Da war doch was, denkt der alte Mann und schaut in das Wohnzimmer zurück und gibt ein leises »Oh« von sich. Er tut zwar so, er ist aber nicht wirklich überrascht, einen gefesselten und geknebelten Jungen auf dem Boden sitzen zu sehen. Mit dem Kaffeebecher in der Hand verlässt er die Küche und bleibt vor dem Jungen stehen.

»Du bist ja noch immer da«, sagt er.

Der Junge nickt, er ist noch immer da.

»Hast du es dir überlegt? Wirst du jetzt reden?«

Der Junge nickt erneut, daraufhin beugt sich der alte Mann vor und reißt mit einem Ruck den Klebestreifen von seinem Mund. Der Junge verzieht das Gesicht, gibt aber keinen Laut von sich. Der alte Mann nippt von seinem Kaffee und betrachtet den Jungen abschätzend.

»Wie bist du überhaupt reingekommen?«, fragt er.

»Durch die Haustür«, antwortet der Junge.

»Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil die Haustür immer verschlossen ist.«

Der Junge schweigt.

»Also, noch mal von vorne: Wie bist du reingekommen?«

»Ich habe einen Schlüssel.«

»Aha, du bist also einer von denen, die einen Schlüssel haben!«

Der alte Mann lacht, als hätte er einen guten Scherz gemacht, dann zeigt er mit dem Kinn zu den zwei Koffern.

»Und die Koffer? Sind das deine?«

»Nicht wirklich.«

»Nicht wirklich ist keine Antwort.«

»Es sind nicht meine Koffer.«

Der alte Mann nickt, als hätte er sich das schon gedacht.

»So wie du aussiehst, hätte ich dich auch nie für einen Schmuggler gehalten.«

»Ich bin auch kein Schmuggler«, sagt der Junge und seufzt erneut.

Der Seufzer gefällt dem alten Mann.

»Langsam wirst du mürbe, was?«

»Ein wenig«, gibt der Junge zu.

»Gut, sehr gut.«

Der alte Mann nippt erneut von seinem Kaffee.

»Ich verrate dir mal, wie es von jetzt an läuft«, sagt er. »Ich stelle die Fragen und du hast zu antworten, den Rest der Zeit hältst du den Mund, verstehst du das?«

»Ich verstehe.«

»Gut, was also führt dich hierher?«

»Ich wollte nett sein.«

Der alte Mann schüttelt den Kopf.

»Mach dich nicht lächerlich, mit Nettigkeiten kommst du nicht weit. Sag die Wahrheit.«

»Ich sage die Wahrheit. Ich wollte nett sein und das habe ich jetzt davon.«

Der alte Mann macht große Augen.

»Was? Ich glaube, ich höre nicht recht, du kleiner Hosenscheißer! Frech bist du also auch noch!«

Er stellt den Becher auf den Boden, hockt sich vor den Jungen und hält ihm seine Hände entgegen.

»Siehst du diese Hände?«

»Ich sehe sie.«

»Damit bin ich gegen zehn Männer angetreten.«

Der Junge betrachtet die Hände, als hätte er sie noch nie gesehen.

»Wirklich?«, fragt er.

»Natürlich wirklich. Wer denkt sich denn so was aus?!«

»Wer waren die zehn Männer?«

Der alte Mann winkt ab.

»Keine Ahnung. Wenn du im Krieg bist, fragst du nicht, wer dich bedroht, da kämpfst du um dein Leben. Zehn gegen einen. Was glaubst du, wer überlebt hat?«

»Du und die Hände?«

»Richtig, ich und meine Hände.«

Der alte Mann macht eine Faust, hält sie dem Jungen unter die Nase und knurrt:

»Also leg dich nicht mit mir an, du Knirps. Hast du verstanden?!«

»Ich habe verstanden.«

»Gut.«

Der alte Mann richtet sich wieder auf.

»Dann verrat mir mal, wer dich geschickt hat.«

»Meine Mutter.«

Der alte Mann ist verblüfft.

»Was? Deine Mutter? Du bist doch höchstens neun Jahre alt!«

»Elf.«

»Ich glaub’s ja nicht! Jetzt schicken sie also schon Kinder an die Front!«

»Aber …«

Der alte Mann unterbricht den Jungen mit einer knappen Handbewegung.

»Habe ich eine Frage gestellt?«

»Nein.«

»Dann gibt es für dich auch keinen Grund zu reden. Was denkst du denn, wer du bist?!«

»War das jetzt eine Frage?«, fragt der Junge vorsichtig zurück.

»Natürlich war das eine Frage.«

»Ich bin Kai.«

»Kai was?«

»Kai Westhagen.«

Der alte Mann grübelt.

»Westhagen? Westhagen? Mh, habe ich schon mal gehört.«

Jetzt hat der Junge genug. Die Worte platzen regelrecht aus ihm heraus:

»Mensch, Opa, ich bin es, dein Enkel!«

Der alte Mann erstarrt. Sein gesundes Auge weitet sich und die Iris scheint aufzufunkeln. Die Pupille dagegen zieht sich zur Größe eines Stecknadelkopfs zusammen, als würde das Sonnenlicht sie blenden. Es geschieht noch viel mehr, doch es ist nicht sichtbar — alle Sicherheit verlässt den alten Mann und die Unsicherheit übernimmt ihren Platz wie ein Besucher, der sich durch die Hintertür reingeschlichen hat und nicht daran denkt, wieder zu gehen.

»Mensch, Junge«, sagt er mit einem erschrockenen Lachen, »als wenn ich nicht wüsste, wer du bist. Kai Westhagen! Natürlich! Mein Enkel. Und ich bin dein Opa. Aber sicher. Wie lange sitzt du schon hier?«

»Eine Woche oder so.«

»Was?!«

Der Junge grinst.

»Nee, nur eine Stunde, Opa.«

»Und was habe ich getan?«

»Du hast ein Nickerchen gemacht.«

Opa reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht, als würde er es gründlich waschen müssen. Danach schaut er zur Treppe hoch und versucht sich zu erinnern, dass er bis eben geschlafen hat.

»Natürlich, ich erinnere mich.«

Er lacht auf.

»Ich habe ein Nickerchen gemacht und jetzt bin ich wach. So einfach kann das sein. Aber sag mal …«

Er sieht seinen Enkel schief an.

»… warum sitzt du gefesselt auf dem Boden?«

»Du...

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