Mythen der Gesundheitspolitik

Mythen der Gesundheitspolitik

von: Hartmut Reiners

Hogrefe AG, 2018

ISBN: 9783456759074

Sprache: Deutsch

312 Seiten, Download: 1210 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mythen der Gesundheitspolitik



1 Mythos 1: Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren.


„Im Großen und Ganzen ist die Kostenentwicklung im deutschen Gesundheitswesen vergleichsweise unter Kontrolle.“

Thomas Rice, Gesundheitsökonom (University of California)

Im Juni 2017 veröffentlichte das Deutsche Ärzteblatt einen Beitrag über „Die Mär der Kostenexplosion“ (Lichey et al., 2017). Weder seine Aussagen noch sein Titel waren neu (Braun et al., 1998). Diese Erzählung geistert seit über 40 Jahren durch die Medien, obwohl die Fakten für diese pyrotechnische Metapher nichts hergeben. Pate dieses Mythos ist der CDU-Politiker Heiner Geißler, damals Sozialminister von Rheinland-Pfalz (Geißler, 1974). Er präsentierte 1974 eine Indexreihe der GKV-Ausgaben mit dem Basisjahr 1960 = 100, die 1973 einen Wert von 457,4 erreicht hatte, was eine dramatische Entwicklung zu belegen schien. Bei anhaltender Entwicklung hätten sich allein zwischen 1971 und 1978 die Ausgaben der GKV verdreifacht; der durchschnittliche Beitragssatz wäre von 8,1 auf 13,1 Prozent gestiegen. Seither werden auch bescheidene Anhebungen der Krankenkassenbeiträge, höhere Arzneimittelpreise oder steigende Krankenhausausgaben in den Medien gedankenlos als „Kostenexplosion“ bewertet. Dieser in die Alltagssprache eingegangene Begriff wird automatisch mit Entwicklungen im Gesundheitswesen assoziiert. Geißler ist damit etwas gelungen, was er selbst einmal als die hohe Kunst der Politik bezeichnete: das Besetzen von Begriffen, d.h. die Reduzierung politischer Zusammenhänge auf Parolen, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzen. Geißlers Studie löste eine heftige Debatte über die Ausgabenentwicklung in der GKV aus. Sie hatte 1977 ein Kostendämpfungsgesetz zur Folge, das die politische Tradition der seit den 1980er Jahren in jeder Legislaturperiode durchgeführten Reformen der GKV begründete (siehe Kap. 12.2). Diese wurden stets von Berichten über eine ausufernde und von der Politik scheinbar nicht in den Griff zu bekommende Kostenentwicklung im Gesundheitswesen begleitet.

Dabei kann von einer die Bezeichnung „Kostenexplosion“ rechtfertigende Steigerung der Gesundheits- bzw. Krankenkassenausgaben schon seit über 40 Jahren nicht mehr die Rede sein, wenn denn dieser dramatische Begriff jemals die Realität angemessen erfasst hat. Aber richtig ist auch, dass sich dieses Schlagwort nicht so lange in den Medien und den Köpfen der Bürger behauptet hätte, wenn dahinter nicht ein reales Phänomen stecken würde. Die Gesundheitsausgaben haben die immanente Tendenz, stärker zu wachsen als das Bruttoinlandsprodukt (BIP), d.h. die Gesamtheit der erstellten Güter und Dienstleistungen. Die Krankenkassenbeiträge steigen kontinuierlich, trotz einer Kette von Reformen im Gesundheitswesen. Aber das sind keine spektakulären Vorgänge, sondern die Folge des volkswirtschaftlichen Strukturwandels und der Eigenarten eines besonderen Wirtschaftszweigs, die politisch gesteuert und in verträglichen Grenzen gehalten werden können.

1.1 Die Kostenexplosion: Wie ein Mythos entstand


Die von Geißler 1974 angestoßene Debatte hatte einen realen Hintergrund. In den 1960er Jahren waren mehrere Anläufe zu einer Reform der GKV gescheitert. Die von der Bundesregierung unter Kanzler Ludwig Erhard 1964 eingesetzte Sozialenquête-Kommission stellte in ihrem 1966 veröffentlichten Bericht fest (S. 209): „Die Bemessung des Anspruchsniveaus der GKV, durch das zugleich auch die Höhe des Beitragssatzes bestimmt wird, ist zum Problem geworden.“ Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre stiegen die Beitragssätze der Krankenkassen deutlich an (Tabelle 1-1), obwohl die GKV zuvor durch das Lohnfortzahlungsgesetz finanziell entlastet worden war.1 Der Spiegel gab im Mai/Juni 1975 einer fünfteiligen Serie über das Gesundheitswesen die Schlagzeile: „Krankheitskosten – die Bombe tickt“. Er zitierte Geißlers damaligen Planungschef Ulf Fink: „Das ganze System ist darauf angelegt zu explodieren.“ Auch der seinerzeit für Sozialpolitik zuständige Abteilungsleiter des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Alfred Schmidt befürchtete einen „Riesensprengsatz“ in der Ausgaben- und Beitragsentwicklung der GKV. Eine ähnliche Entwicklung konnte man damals auch in anderen europäischen Ländern beobachten (Reiners 1987, S. 55–60).

Der Ökonom Walter Krämer beschwor das Menetekel einer Diktatur der Medizin über die Volkswirtschaft. Der Bedarf an medizinischen Leistungen sei im Prinzip unendlich. Bei ungebremstem Fortgang des Wachstums der Gesundheitsausgaben werde „genau im Jahre 2019 das gesamte Bruttosozialprodukt durch Gesundheitsausgaben ausgeschöpft. Der letzte Bäcker wird zum Zahntechniker umgeschult, statt Privatautos werden Rettungshubschrauber, anstelle von Eigenheimen werden Krankenhäuser gebaut. Niemand läuft weiter als 100 Meter bis zur nächsten Apotheke, und Herzchirurgen findet man leichter als einen Friseur. Bei einem Verkehrsunfall darf man mit einem unverzüglichen Einfliegen eines voll ausgerüsteten Notarztteams rechnen, aber zu essen gibt es nur noch Erbsensuppe.“ (Krämer, 1982, S. 111)

Einen solchen Zustand müssten wir nach Krämers Hochrechnung bei Erscheinen der 3. Auflage dieses Buches erreicht haben. Aber sein spektakuläres Bild war schon damals unseriöse Effekthascherei. Der Anstieg der Krankenkassenausgaben war in den frühen 1970er Jahren zum einen die Folge einer steigenden Zahl der in der GKV versicherten Personen. Deren Anteil an der Bevölkerung hatte sich von 83,4 Prozent im Jahr 1960 auf 91,5 Prozent im Jahr 1973 erhöht. Zusätzliche Personenkreise wie Studenten, Behinderte und Künstler wurden in dens Kreis der Pflichtversicherten in der GKV aufgenommen. Dadurch hatten mehr Menschen ungehinderten Zugang zu medizinischen Leistungen, was sich zwangsläufig in höheren Ausgaben niederschlug. Auch wurden der Leistungskatalog der Pflichtkassen für Arbeiter (AOK, BKK, IKK) sowie die von ihnen gezahlten Vergütungen für Kassenärzte dem höheren Standard der Angestellten-Ersatzkassen angepasst (Thiemeyer, 1985).

Dramatisierende Darstellungen wie die von Geißler und Krämer basieren auf einem Trick, den Krämer als Professor für Statistik gut kennt. Mit der Bestimmung des Basisjahres einer entsprechenden Indexreihe kann man eine gemäßigte und dem allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum entsprechende, aber auch eine im Verhältnis zum BIP scherenförmige Entwicklung der Gesundheitsausgaben darstellen. Je kleiner der Ausgangswert und je weiter entfernt das Bezugsjahr, desto größer wirkt die Steigerung. Entwicklungen in einer relativ kurzen Periode werden zur Basis für langfristige Indexreihen gemacht und verwandeln so eine vorübergehende Erscheinung in eine scheinbar langfristige Tendenz. Hätte Geißler z.B. bei seiner Darstellung 1970 als Basisjahr gewählt, wäre die Differenz zwischen 1960 und 1973 nur 134,5 statt der von ihm errechneten 357,5 Punkte, eine deutlich weniger spektakuläre Größenordnung (Kühn, 1976). Krämer stützte seine Apokalypse auf die Entwicklung der Gesundheitsausgaben in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, als sowohl die gesamten Gesundheits- als auch die GKV-Ausgaben deutlich stärker stiegen als das Wirtschaftswachstum und die Einkommen der Versicherten. Zwischen 1970 und 1975 wuchs der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP von 6,0 auf 8,4 Prozent (Tabelle 1-1). Hätte sich diese Entwicklung auch in der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980er Jahren so fortgesetzt, hätte dies in der Tat zu Verwerfungen in der GKV-Finanzierung geführt. Aber es ging nicht so weiter.

Die Methode, statistischen Zeitreihen ergebnisorientiert zu trimmen, ist zwar Experten hinreichend vertraut. Auch wird von den meisten Gesundheitsökonomen schon seit Längerem nicht mehr das Zerrbild einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen bemüht. Wie Tabelle 1-1 belegt, ist der Anteil der GKV-Ausgaben am BIP seit den 1980er Jahre nur mäßig gestiegen. 1985 lag er bei 6,0 Prozent, stieg u.a. durch die Kosten der deutschen Einigung bis 1995 auf 6,5 Prozent und beträgt heute (2016) 7,1 Prozent. Da „explodiert“ nichts, vielmehr verweisen die Zahlen auf eine moderate Entwicklung der GKV-Ausgaben, die sich im Rahmen des allgemeinen Wirtschaftswachstums bewegt. Deshalb stößt auch die Forderung marktliberaler Ökonomen und Publizisten nach einer „Sozialbremse“ (Göbel, 2017) ins Leere, die das Wachstum der Sozialausgaben im Rahmen der BIP-Entwicklung halten soll. In der GKV ist eine moderate Ausgabensteigerung seit 30 Jahren die Realität.

Der Mythos von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen könnte sich allerdings nicht so hartnäckig halten, wenn er nicht irgendwie einem Gefühl der Bürger entsprechen würde. Tabelle 1-1 dokumentiert eine wachsende BIP-Quote der Gesundheitsausgaben insgesamt sowie steigende Beitragssätze der Krankenkassen. Der BIP-Anteil der Gesundheitsausgaben stieg von 1995 bis 2016 von 10,1 auf 11,3 Prozent. Der durchschnittliche Krankenkassenbeitrag nahm im selben Zeitraum von 13,15 auf 15,7 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens zu. Dafür sind drei Phänomene verantwortlich:

  • Das Gesundheitswesen ist eine personalintensive Dienstleistungsbranche, die ein geringeres Rationalisierungspotenzial hat als das verarbeitende Gewerbe. Daher steigen die Kosten und die Preise überproportional. Auch das Beschäftigungswachstum ist deutlich höher als in der Industrie.
  • Das Gesundheitswesen ist ein Wirtschaftszweig, in dem die Nachfrage von den Angebotsstrukturen stark beeinflusst...

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