Geschenkte Jahre - Glücksmomente und Herausforderungen

Geschenkte Jahre - Glücksmomente und Herausforderungen

von: Marlis Pörtner

Klett-Cotta, 2016

ISBN: 9783608109559

Sprache: Deutsch

178 Seiten, Download: 2315 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Geschenkte Jahre - Glücksmomente und Herausforderungen



Heimkehr und Neubeginn

Manche meiner Leser hatten es vorausgeahnt und mich mehrmals darauf angesprochen. Für mich kam es überraschend: Ich bin wieder in die Stadt zurückgezogen. Das war nicht vorgesehen. Gewiss, der Gedanke ist als Wunschfantasie in meinem letzten Buch kurz aufgetaucht, doch eine ernsthafte Absicht steckte nicht dahinter. Die hat sich erst im Sommer 2011 abgezeichnet, als ich nach einer komplizierten Schulteroperation in meiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war und wochenlang in meiner ländlichen Wohnung festsaß.

Dass sich schon kurz nach der Operation eine erste leise Andeutung abgezeichnet hat, ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden. Meine Tochter besuchte mich im Krankenhaus, wir spazierten zusammen zu dem kleinen Balkon am Ende des Flurs, wo man weit über den Zürichsee auf das gegenüberliegende Ufer bis hin zu den Schneebergen am Horizont blickte – und auf mein früheres Wohnquartier direkt unter uns. »Schön ist es hier«, sagte meine Tochter. Und da schoss mir durch den Kopf: Ich gehöre hierher – wie ein Blitzlicht, das gleich wieder erlosch. Später stellte sich heraus, dass meine Tochter in dem Moment genau das gleiche gedacht hatte.

Erst in der Zeit danach verdichtete sich der flüchtige Gedanke allmählich zum konkreten Entschluss. Während sechs Wochen war mein rechter Arm Tag und Nacht in Schulterhöhe auf einem Keil fixiert. Das war äußerst unbequem und behinderte mich erheblich. Für alles, was nicht einhändig machbar war, brauchte ich Hilfe. Beim Duschen, Anziehen und anderen Alltagsverrichtungen war ich auf ambulante Pflegedienste angewiesen. Die Frauen machten ihre Sache sehr gut, lästig war nur, dass sie vorher nie genau sagen konnten, wann sie kommen würden. Manchmal vertrödelte ich den halben Vormittag mit Warten. Ein Glück, dass ich wenigstens allein zur Toilette gehen und das Zähneputzen, etwas mühsam zwar, mit der linken Hand bewältigen konnte, sodass ich den Pflegedienst nur einmal am Tag in Anspruch nehmen musste. Um die Mittagszeit kam fast immer jemand vorbei, meistens meine Tochter oder dann mein Sohn, einer der Enkel oder auch mal Freunde. Sie kauften für mich ein, bereiteten das Essen zu und richteten die Überbleibsel der reichlich bemessenen gemeinsamen Mahlzeit so her, dass ich sie später noch einmal aufwärmen und problemlos mit einer Hand essen konnte. Wie sehr man im Alltag ständig beide Hände braucht, wurde mir erst jetzt so richtig bewusst.

Schön war es, spontane nachbarschaftliche Hilfe zu erleben. Als meine Wohnungsnachbarin mich mit dem fixierten Arm sah, anerbot sie sich sofort, mir alle paar Tage die Haare zu waschen, sie sei dafür mit allem Nötigen eingerichtet. So erfuhr ich, dass sie früher einen eigenen Coiffeursalon geführt hatte, den sie aufgeben musste, als die Liegenschaft verkauft und ihr Mietvertrag gekündigt wurde. Bezahlbare neue Räumlichkeiten hatte sie nicht gefunden und sich eine andere Arbeit suchen müssen. Für den Eigengebrauch hatte sie im kleinen Abstellraum ihrer Wohnung eine professionell ausgestattete Mini-Coiffeurkabine eingerichtet. Das war natürlich sehr angenehm für mich. Anstatt mir die Haare beim Duschen von den ambulanten Pflegerinnen waschen zu lassen, was ziemlich mühsam war, konnte ich mich hier bequem hinsetzen und von der Nachbarin fachkundig bedienen lassen. Dass wir dabei ins Gespräch kamen und uns ein wenig näher kennenlernten, war eine schöne Zugabe.

Dreimal in der Woche musste ich zur Physiotherapie am anderen Ende des angrenzenden Städtchens. Das nahm fast den ganzen Vormittag in Anspruch, obwohl die Sitzungen nur 25 Minuten dauerten. Doch die Zeiten waren nicht mit den (spärlichen) Busverbindungen vereinbar. Langes Warten vor und nach der Behandlung ließ sich nur umgehen, wenn ich ein Taxi nahm, was mit erheblichen Kosten verbunden war. Ich leistete es mir trotzdem gelegentlich. Meine Bitte, die Behandlungszeiten besser auf den Busfahrplan abzustimmen, stieß bei der Physiotherapeutin auf taube Ohren. Offenbar war ich die einzige Patientin ohne Auto.

Abgesehen von diesen »Ausflügen« war mein Radius auf die unmittelbare Umgebung beschränkt, die mir in diesen Sommerwochen besonders steril und öde vorkam. Es war Ferienzeit, die Siedlung wirkte wie ausgestorben. Viel unternehmen konnte ich nicht, denn auf keinen Fall durfte ich einen Sturz riskieren. Abstecher nach Zürich waren zu riskant, dem Gedränge im Zug und auf den Bahnhöfen fühlte ich mich nicht gewachsen. Der kompakte Keil unter dem Arm beeinträchtigte mein Gleichgewicht, sodass ich beim Gehen sehr unsicher war. Größere Spaziergänge waren ohne Begleitung nicht ratsam. Mit dem Bus zum nahe gelegenen See fahren, schwimmen – daran war nicht einmal zu denken. Das alles schlug mir mit der Zeit aufs Gemüt. Ich war dankbar für jeden Besuch, der etwas Abwechslung brachte. Die meiste Zeit verbrachte ich in meiner Wohnung. Das einhändige Schreiben auf dem Laptop war mühsam. Um ein Buch zu halten hätte ich beide Hände gebraucht. Doch dank eines Lesegeräts, das mir mein Sohn mitbrachte und das sich bequem mit einer Hand halten ließ, konnte ich wenigstens lesen. Ein Glück – es wäre schlimm für mich gewesen, nicht mehr lesen zu können. Meist lese ich lange abends im Bett. Selbst wenn ich noch so müde bin: Ohne zu lesen, und seien es nur ein paar Seiten, kann ich nicht einschlafen – was natürlich nicht heißt, dass ich nur zum Einschlafen lese.

Im Spätsommer stieß ich in der Zeitung auf einen Artikel über neue, sehr fortschrittlich konzipierte städtische Alterswohnungen in Zürich, mit Internetanschluss in jeder Wohnung, eigener Küche, Hauswart sowie ambulantem Pflegedienst im Haus. Ob sich da eine Möglichkeit auftat, wieder in die Stadt zu ziehen? Vielleicht sollte ich mich schon mal vorsorglich anmelden? Die Wartelisten waren lang, es gab mehrjährige Wartezeiten.

Mein Sohn fand die Idee gut, riet mir aber, es unbedingt auch auf dem freien Wohnungsmarkt zu versuchen Das war schon deshalb notwendig, weil man sich offenbar für eine Alterswohnung nur anmelden konnte, wenn man bereits in der Stadt wohnte. Ich begann regelmäßig eine einschlägige Internetseite zu konsultieren. Und siehe da, es dauerte nicht lange, bis ich auf ein verlockendes Angebot stieß, im selben Stadtviertel, in dem ich zuvor lange gewohnt hatte. Das Haus wurde gerade umgebaut und alle Wohnungen neu hergerichtet. Die Pläne sahen gut aus. Ich meldete mich bei der Immobilienfirma und reichte die nötigen Unterlagen ein. Kurz nachdem ich den Keil unter meinem Arm losgeworden war, konnte ich in Begleitung meines Sohnes die Wohnungen im Rohbau besichtigen. Selbst in diesem unfertigen Zustand gefielen sie mir ausnehmend gut. Dass sie erst im Februar des folgenden Jahres bezugsfertig sein würden, war nur von Vorteil, denn für einen sofortigen Umzug war ich noch gar nicht bereit. Eine der Wohnungen erschien mir auf Anhieb die richtige, ich bewarb mich darum und – ein kleines Wunder angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt – bekam umgehend den Mietvertrag zugeschickt. Die Zeit der Rückkehr war gekommen.

Der Wegzug vor vier Jahren war keine Fehlentscheidung. Die Herausforderung, mich in der so ganz anderen ländlichen Umgebung völlig neu orientieren zu müssen, hat mich Abstand gewinnen lassen von den vertrauten Lebensumständen und mich davor bewahrt, ständig Vergleiche zu ziehen. Das hat mich offener gemacht für Neues. So ist die Rückkehr nach Zürich nicht nur ein Heimkommen in vertraute Gefilde, sondern ebenso sehr ein Aufbruch zu neuen Entdeckungen.

Seit ich wieder in der Stadt wohne, vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht mindestens einmal denke: »Wie schön es hier ist!« und »Wie gut es mir geht!« Dass die Entscheidung richtig war, wusste ich vorher. Doch diese immer wieder aufblitzenden intensiven Glücksmomente sind ein unerwartetes Geschenk, über das ich staune.

Es ist, als hätten mich die vier Jahre Abwesenheit neu sehen gelehrt. Wenn ich mit dem Tram in die Innenstadt fahre, bezaubert mich der Blick von der Quaibrücke über den See und seine Ufer jedes Mal aufs Neue. Manchmal reicht er, strahlend blau und klar, bis hin zu den Schneebergen am Horizont, an anderen Tagen schimmert er, nebel- oder wolkenverhangen, in sämtlichen Grauschattierungen und lässt die Uferumrisse nur verschwommen ahnen. Ich kenne diese Bilder von Kindheit an, doch mir scheint, dass ich ihre Schönheit erst jetzt wirklich zu schätzen weiß. Vielleicht war sie zu gewohnt und zu selbstverständlich gewesen. Ich sehe die Stadt, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe, jetzt mit ganz neuen Augen.

In den letzten Jahren vor meinem Umzug aufs Land hatte ich die vielen Veränderungen rundherum bedauert und kritisiert, das...

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